Tafel 6 Der Weg in die Industrialisierung
Maschinensaal im Musikinstrumentenbau, angetrieben mittels Transmission
© Archiv Musik- und Wintersportmuseum

Tafel 6 Der Weg in die Industrialisierung

Maschinen- und Werkzeugbau

In seiner Gesamtheit – dem Aufblühen des Musikinstrumentenbaus in industrieller Fertigung (mit seinen Besonderheiten der Heimarbeiterindustrie) bis hin zur Gegenwart im Spannungsfeld des wirtschaftlichen und kulturellen Wandels bietet Klingenthal einen besonderen Aspekt der Industriekultur in Sachsen: Eine auf fast 16 Kilometern Länge verteilte Streusiedlung mauserte sich ab 1829 zu einem großflächigen Fertigungsnetzwerk.
Um 1860 fertigten Mundharmonika- und Handharmonikafirmen jährlich etwa 3 Millionen Mundharmonikas und etwa 250.000 Handzuginstrumente wie Harmonikas, Konzertina, Bandoneons und Akkordeons.
1871 zählte die Handels- und Gewerbe­kammer Plauen im Raum Klingenthal 347 Mundharmonika- und 663 Handharmonikahersteller.
Hinzu kamen tausende Heimarbeiter, Zulieferer und dutzende weltweit agierende Handelsunternehmen.

1913 deckte die Produktion aus Klingen­thal zwei Drittel des weltweiten Bedarfs an Handharmonikas! Möglich wurde dies durch spezielle Erfindungen im Werkzeug- und Maschinenbau, welche die maschinelle massenhafte Produktion von Einzelteilen für diese Instrumente überhaupt erst möglich machten.
Die voranschreitende Industrialisierung mit der Entwicklung kleinerer Manufakturen zu Industriefirmen unter bürgerlich emanzipierter Leitung führte zu Wohlstand.
Nicht nur sprichwörtlich war damals die Stimmzunge das »Zünglein an der Waage« welches für Klingenthal den Weg in die Industrialisierung maßgeblich mitentschied: Millionenfach maschinell aus Metallen wie Messing und Stahl gefertigt, brachte es Mund- und Handharmonikas zum Klingen und trug damit auch den Ruf der Musikstadt Klingenthal in alle Welt.

Gerade Mund- und Handharmonikabau waren in ihrer Struktur für die industrielle Fertigung besonders geeignet: Die Einzelteile waren einfachen Aufbaus, jedoch wurden sie in millionenfacher Stückzahl mit höchstmöglicher Präzision benötigt. Anders als etwa im individuelleren Metallblas- oder Zupfinstrumentenbau war im Zungeninstrumentenbau der Einsatz von Maschinen von erheblichem Vorteil: Instrumente waren dadurch in schier beliebiger Stückzahl und identischer Klangqualität mit kurzer Herstellungszeit schnell lieferbar.
1928 gab es in Klingenthal 73 Harmonikafabriken mit 1350 Arbeitern (830 Männer und 520 Frauen) sowie eine ungefähr gleich große Zahl an »Hausgewerbetreibenden«, welche vor allem eben jene Harmonikafabriken mit Einzelteilen belieferten. Unter den schätzungsweise 3500 Heimarbeitern waren 2700 Frauen und 800 Männer. Auch Kinder halfen häufig mit um den Lebensunterhalt der Familien zu sichern.

Ende der 1920er Jahre wird die Zahl der Arbeiter, die im Bereich des Amtsgerichtsbezirks Klingenthal für die Harmonikaindustrie tätig waren auf rund 10.000 geschätzt.
Dass trotz der Entwicklung von Maschinen eine solche hohe Zahl an Arbeitern gebraucht wurde, hat insbesondere zwei Gründe: Zwar sorgten inzwischen Maschinen für eine hohe Stückzahl bei Einzelteilfertigungen, jedoch waren das Stimmen und der abschließende Zusammenbau der Mund- und Handharmonikas von menschlicher Erfahrung und handwerklichem Geschick abhängig. Das gilt bis in die Gegenwart. Andererseits waren damals die Reallöhne insbesondere im Heimarbeiter- und Zulieferbereich so niedrig, dass es sich zum Teil nicht lohnte in neue teure Fertigungsstrecken und damit in vielleicht notwendige Fabrikneubauten zu investieren. So blieben viele kleine Fabriken und noch mehr Heimarbeitsplätze charakteristisch.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg während der DDR-Zeit wurde die Zungeninstrumentenfertigung durch die Bildung größerer Fertigungseinheiten rationalisiert, Bauelemente standardisiert und auch die Einzelteilfertigung durch weitere maschinelle Verbesserungen und den Einsatz neuer Materialien weiter industrialisiert. Damit verringerte sich der Anteil an Heimarbeitern deutlich.
Bis heute sind Maschinen- und Werkzeugbau bedeutende wirtschaftliche Produktionszweige im klingenden Tal. Mehrere hundert Arbeitsplätze im Bereich des Werkzeug- und Spezialmaschinenbaus haben ihren Ursprung in den speziellen Bedürfnissen des Musikinstrumentenbaus.


Ernst Julius Berthold


… und die Zunge die den Ton angibt: Die Erfindungen des Maschinenbauers in Klingenthal haben dem Musikinstrumentenbau in der ganzen Welt eine neue Dimension gegeben …

•    1868 kam der gelernte Schlosser auf Einladung eines Arbeitskollegen nach Klingenthal und blieb der Liebe wegen: Verheiratet mit der Tochter eines Fabrikanten erkannte er schnell die speziellen Bedürfnisse des Instrumentenbaus und gründete alsbald seine eigene Fabrik zur Herstellung von Spezialmaschinen.
•    Seit 1870 verbesserte Ernst Julius Berthold zunächst noch handbetriebene Spezialwerkzeuge ehe er schließlich mit Dampf und Wasser angetriebene Maschinen erfand, welche die Arbeitsprozesse einzelner Fertigungsvorgänge automatisierten und damit erheblich beschleunigten.
•    1878 ging in der Leiterd’schen Fabrik – einem der größten Harmonikaproduzenten seiner Zeit – die erste von Ernst Julius Berthold nach eigenem Patent gefertigte »doppelte Stimmzungen-Fraismaschine« in Betrieb. Sie stellte in kurzer Zeit mit großer Genauigkeit beträchtliche Mengen an Stimmzungen her. Das war die entscheidende technische Voraussetzung um bis zu 3 Millionen Mundharmonikas und hunderttausende Handharmonikas jährlich im Raum Klingenthal zu fertigen. Denn die Stimmzunge (ein schmales längliches Metallblättchen) ist das tongebende Element aller Mund- und Handharmonikas, welche mittels Luftstrom zum Schwingen mit Überschallgeschwindigkeit gebracht wird.
•    1913 deckte die Musikinstrumentenproduktion im Raum Klingenthal mehr als die Hälfte des Weltbedarfs an Harmonikas.
•    Ernst Julius Bertholds Erfindungen machten in vielen Bereichen des Musikinstrumentenbaus den Weg frei für eine industrielle Serienfertigung.
•    Die Weltgeltung welche Klingenthal damit erlangte führte schließlich auch zur Verleihung des Stadtrechts im Jahre 1919.
•    Seiner Wahlheimat Klingenthal blieb Ernst Julius Berthold auch nach dem Ausscheiden aus seiner Firma treu und schenkte den Bürgern ein park­ähnliches Grundstück zur Erholung. Auf diesem befindet sich heute der Tierpark der Stadt.
 

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Der Klingenthaler Tafelweg
Tafel 1 Die Besiedelung des Zwota-Döbratales
Tafel 2 Mundharmonika, Gliersteig, Rathaus
Tafel 3 Handharmonika und Kirche
Tafel 4 Das alte und das neue Schloss, Stadtrecht
Tafel 5 Der Bahnhof Klingenthal
Tafel 7 Die Wiege des Wintersports
Tafel 8 Textiles Kunstgewerbe, Stickerei/Kammmacherei
Tafel 9 Musik- und Berufsschule Klingenthal
Tafel 10 Besiedlung durch Exulanten: das Quittenbach